Pauls Leben und ich – ein Selbstporträt

An jenem Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin, starb der Bruder meiner Urgroßmutter, Paul Frankenstein. Es gibt einige Stimmen, die behaupten, ich wäre Pauls Wiedergeburt, Paul lebe sozusagen in mir fort, aber das kann nicht sein. Dann hätte ich ja Pauls Schuhfabrik weiterführen müssen, die er von seinem Vater übernommen hatte, ich hätte nach dem Tod seiner Gattin mit seiner zweiten jungen Frau zusammenleben müssen, die ihn mit ihrem Stiefsohn betrog, und ich hätte jeden Sonntag Morgen in den Kölner Dom gehen müssen, weil Paul, aus einer jüdischen Familie stammend, nach dem Krieg Katholik wurde, aus welchen Gründen auch immer, aber in Wirklichkeit habe ich weder mit Schuhen noch mit dem Katholizismus etwas am Hut.

Im Alter von sechs Jahren trat ich begeistert den Jungen Pionieren bei, es gab eine großartige Feier in der Aula unserer Schule, die drei Stunden dauerte, aber wenn ich heute daran denke, glaube ich, am Tag meiner Geburt ging doch etwas schief. Der damals in Ostdeutschland praktizierte Sozialismus war dem Katholizismus ziemlich ähnlich, und vielleicht hat mich Paul unbekannterweise doch mehr beeinflusst als ich es wahrhaben will. Nichtsdestotrotz bin ich davon überzeugt, dass das unsere einzige gemeinsame Verwirrung ist.

Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass sie als Kind mit Paul einen Jahrmarkt besuchte und in einer Lotterie mit einem Los 50 Pfennige gewann. Das Los hatte 5 Pfennige gekostet, und Paul rechnete ihr vor, dass sie damit 10 neue Lose kaufen und möglicherweise ihren Gewinn vermehren könnte, das wäre unternehmerisch gedacht, aber meine Mutter hielt kopfschüttelnd das Geld umkrampft.

Rahel von Wroblewsky - Bild

Bild: Marianne Mairhofer-Dornauer

Ich glaube, Paul wäre mit meinem Leben sehr unzufrieden, genauso wie er es damals mit meiner Mutter gewesen ist. Mein Leben besteht daraus, andere Menschen zu beobachten und hinterher darüber zu schreiben, niemals würde ich selbst Entscheidungen treffen und schon gar kein Unternehmen führen, und wenn ich bei meiner Ärztin auf die Toilette gehe, schließe ich sowohl den kleinen Vorraum als auch die Toilette von innen ab. Nein, ich gehe immer auf Nummer sicher, ich bin ein ängstlicher und zögerlicher Mensch, ich kann niemals im Leben Paul geworden sein, und neulich habe ich zufällig Pauls Todesanzeige gefunden und festgestellt, dass das mit unseren Daten sowieso nicht stimmt. Paul ist drei Tage nach meiner Geburt gestorben, da habe ich schon einen Vorsprung gehabt.

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Eine Antwort zu Pauls Leben und ich – ein Selbstporträt

  1. Marion sagt:

    Was für eine rasante, skurrile Geschichte! Ich habe sie atemlos verschlungen. Und dann noch der Clou am Ende. Toll!

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