Nur ein Sessel

Ein Pole hat ihn gerade abgeholt, deinen Sessel. Mit einem großen weißen Lieferwagen, polnisches Kennzeichen. Er sah ganz nett aus, der Pole. Ein freundliches, offenes Gesicht. Wenigstens das. Wenn ich deinen Sessel schon in fremde Hände geben muss. Andererseits habe ich ihn noch lange mitgeschleppt, vier ganze Jahre, obwohl er schon ziemlich ramponiert war.

Ich kenne den Sessel solange wie dich. Nein, länger als dich, denn du bist tot, dein Sessel hat dich überlebt. Und heute habe ich ihn weggegeben. Ist doch nur ein Sessel, oder? Als ich dich kennen lernte, an einem warmen Augustabend vor beinahe einem Vierteljahrhundert, lernte ich wenig später schon deinen Sessel und den Rest deiner Einrichtung kennen. Wir haben nicht lange gefackelt, damals. Wir waren jung und mutig und die Nacht war lau. Deine Einzimmerwohnung war voll gestopft mit Mitbringseln von Reisen in ferne Länder. Dunklen furchterregenden Masken aus dem Senegal. Tonpfeifen aus Peru. Bildern aus Bananenblättern aus Kenia. Kissen in leuchtenden Farben aus Mexiko. Schildpatt-Tabletts und -Schalen von den Philippinen. Ein Teppich aus Ägypten. Ein aus Rohr geflochtenes Häuschen aus Indonesien, dessen diverse Fenster zu öffnen waren, diente als Lampe.

Corinna Reinke - Nur ein Sessel 1

Zeichnung: Rolf Hannes

In dieser Nacht, beziehungsweise den zwei, drei Stunden, die von der Nacht noch übrig waren, brauchten wir kein Licht. Der Vollmond schien so schön wie nie zuvor und nie wieder danach, und er schien genau in dein Zimmer, tauchte alles in ein bläuliches unwirkliches Licht. Blau und milchweiß waren die Farben dieser Nacht. Dein Sessel und die anderen Sitzmöbel waren mit einem weißen Wollstoff bezogen.

Wann ich das erste Mal in diesem Sessel gesessen habe, erinnere ich nicht mehr. Es war ja auch deiner. Er gehörte eindeutig zu dir. Dreimal ist er mit uns umgezogen, zweimal neu bezogen worden. Und noch immer machte er einen ganz stabilen Eindruck. Zwar ist das Sitzpolster etwas schmuddelig und durchgesessen, aber der Rahmen aus massiven dunklen Rattanstäben scheint unverwüstlich. Nur eine Strebe hat eine winzig kleine Kerbe abbekommen. In all den Jahren. Und dort, wo deine Hände auf den Lehnen gelegen haben, ist die Farbe verblichen, das Dunkelbraun einem undefinierbaren Hellbraun-Grau gewichen. Du hast deine Abdrücke hinterlassen, für alle Ewigkeit.

Wer jetzt wohl in deinem Sessel sitzen wird? Die Frau des Polen, die ihn bei ebay ersteigert hat, ist im Auto geblieben. Nur kurz sah ich ihr Gesicht im dunklen Wagenfenster; ihr Mann hatte es eilig, das Möbel zu verstauen. Innerhalb von zwei Minuten war ich ihn los, deinen Sessel. Für zwölf Euro – und ich musste keinen Sperrmüllwagen bestellen. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass überhaupt jemand so ein altes Möbelstück kauft.

Fortsetzung folgt.

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