Nur ein Sessel 2. Folge

Vielleicht hatte ich es mir nicht gewünscht, dass alles so reibungslos ging?

Jetzt klafft eine Lücke in meinem Zimmer. Dabei bin ich heilfroh, das alte Teil endlich loszuwerden. Es hatte sich buchstäblich überlebt, denn es hat dich überlebt. Und ich habe mir ja bereits einen neuen wunderbaren Sessel für ausgedehnte Lesestunden gekauft. Seit Jahren habe ich danach gesucht, und neulich, als ich in das Möbelgeschäft kam und mich in diesen Sessel setzte, wusste ich sofort, das ist meiner. An jenem Tag habe ich gar nicht gesucht, ich habe ihn gefunden, meinen Sessel. Aber der hat noch keine Geschichte.

Nur ein Sessel. Und so viele Erinnerungen. Ich sehe dich sitzen darin, die Arme verschränkt, den Blick in die Ferne gerichtet, nachdenklich, nachdenkend. Oder Musik hörend und mit den Fingern trommelnd. Laut auflachend am Telefon. Im Gespräch mit mir. Du und dieser Sessel, ihr wart eins. Ich habe viel lieber gelegen, herumgelümmelt, bin immer wieder auf- und nieder gesprungen, während wir uns stundenlang über Gott und die Welt unterhielten, du hast gesessen, meist ein Bein über das andere geschlagen.

Corinna Reinke - Nur ein Sessel 2

Grafik: Friedel Kantaut

Später, als wir nicht mehr so viel miteinander redeten, war er hauptsächlich dein Fernsehsessel. Und dein Radiosessel, dein Tor zur Welt. Auf den Knien hattest du den Weltempfänger und konntest bis spät in die Nacht nach immer exotischeren Sendern suchen. Weite und wochen-, ja monatelange Reisen wie früher waren jetzt nicht mehr drin. Du musstest dir die Ferne über die Kurzwelle nach Hause holen. Dabei träumtest du dich dann weg in andere Welten. Manchmal war ich dabei, oft warst du allein unterwegs. Langsam sank dein Kopf auf das Nackenteil, nicht selten bist du weggedämmert, bis dich irgendwelche Pieptöne oder unangenehmes Rauschen weckten. Ich hatte, heute sage ich leider, wenig Verständnis für deine Fluchten und Träumereien. Mir erschien das wie Zeitverschwendung. Muße habe ich erst später kennen gelernt, vielleicht erst, als du schon nicht mehr da warst. Vielleicht geht das auch nicht, zwei Müßiggänger unter einem Dach? Als wir zusammen waren, konnte ich nie lange auf einem Fleck sitzen, immer gab es irgendetwas zu tun, zu bewegen. Es erschien mir unsinnig, still und ohne irgendetwas, ohne eine Daseinsberechtigung auf einem Sessel zu sitzen. Dir nicht. Und darin lag deine Stärke.

Nur ein Sessel, und jetzt tut es doch weh. Wieder dieser Schmerz rund ums Herz. Unerwartet, als sei mir etwas weggerissen worden. Dabei kann ich mich gut trennen von Dingen, viel besser als die meisten meiner Freunde. Und man muss doch Platz schaffen für Neues. Aber jetzt sehe ich nur die Lücke. Leeren Raum. Du bist weg. Und nun auch dein Sessel.

Dein Sessel, von dem ich mich heute getrennt habe, stand immer so, dass du hinaus schauen konntest, in den Himmel, in den Garten, in die Wolken, an den Horizont des Daseins und vielleicht auch darüber hinaus. Dein Blick konnte frei schweifen. So werde ich meinen neuen Sessel auch stellen.

 Ende

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