Morgenlandreise 26

Khorramshar

Heute, am 21. Dezember, ist der größte Feiertrag des Iran, wie mir mein Wirt erklärt. Gestern abend war die ganze Stadt angefüllt mit einem mächtigen Spektakel. Für meine mitteleuropäischen Augen geschah Unvorstellbares. Bei rhythmischem Gesang und feierlichem Schreiten zogen Männer und Jünglinge durch die Straßen, in nie endenden Massen, schlugen sich abwechselnd mal auf die linke, mal auf die rechte Schulter, gleich Geißlern des Mittelalters. An einem Holzgriff ist ein Bündel eiserner Ketten befestigt, womit sie sich Rücken und Brust blutig wundschlugen. Viele bei nacktem Oberkörper. Einige trieben es bis zur völligen Erschöpfung. Sie wurden dann ohnmächtig und blutüberströmt auf dem Gehsteig oder einem Karren notdürftig verarztet. Ich sah auch Buben sich mit einem entsprechend kleineren Folterinstrument quälen. Sie haben die ganze Aufmerksamkeit der Erwachsenen, die am Wegesrand gaffen. Am Rand trabten alte Männer mit Fackeln, die das Spektakel bühnenwirksam beleuchteten. Dank der spärlichen Straßenbeleuchtung wirkte der Spuk noch beängstigender. Jeder Schatten verzerrte sich zu Höllenbildern.


Mein Wirt, der mich auch bekochte

Manchmal strömte aus einer Nebenstraße oder Gasse eine neuformierte Gruppe, die sich dem großen Haufen anschloß, oder sie durchkreuzend einen andern Weg nahm. Alle hundert Meter wurde inmitten des großen Zugs ein Wagen mitgeführt, worauf mit buntem Neon und Flitter, altarähnlich, der Gefeierte dargestellt war. Hussein? Dahinter ging ein Vorsänger, rückwärts, um die Schar der Geißler mit kräftigem Gesang anzuspornen, ihm tausendstimmig im Wechselgesang zu antworten. Vom bloßen Zuschauen geriet ich in einen merkwürdigen Zustand von Ekstase.

Alles Volk war auf den Beinen. Die Frauen lehnten sich in ihren schwarzen Umhängen aus Türen und Fenstern. Die kleinen Kinder zündeten am Straßenrand und auf Treppenstufen Kerzchen an. Lange nach Mitternacht, als ich wie in Trance durch die Stadt ging, traf ich auf unglaubliche Bilder: vor einigen Moscheen und kommunalen Häusern riesige Blutlachen. Hatte man hier Opfertiere geschlachtet, oder waren einige Geißler so weit gegangen, daß sie in Strömen Blut verloren? Einige Männer am Straßenrand beobachtete ich wie sie hemmungslos weinten und schneuzten.

Die Leute haben die Angewohnheit, in Bäume an Straßen, die weniger dem Verkehr und mehr dem Lustwandeln dienen, kleine Holzkäfige zu hängen, in die sie allerlei gefiederte Sänger sperren. Gestern abend allerdings waren sie stumm. Heute erholen sie sich mit mir von dem höllischen Treiben. Und so habe ich, um wieder auf frohe Gedanken zu kommen, mich an einem Gedicht versucht.

Ein Baum in Khorramshar             Ein Traum in Khorramschar
voll von Vogelgezwitscher              gefüllt mit leisem Lächeln
wie wenn’s die Frucht wär              wie wenn’s die Blüten wären
dieses Baums.                                   dieses Traums.

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