Erwachen

Erwachen

Vor längerer Zeit war ich in einem Altenpflegeheim tätig. Als die Bewohner zu Mittag aßen, wurde ich auf eine alte Frau aus Sizilien hingewiesen, die in ihrem Stuhl saß und irgendwie nach links blickte. Ich würde mich um sie kümmern können und setzte mich neben sie.

Das Alter der Frau war nicht zu schätzen, aber sicher betrug es über 90 Jahre. Sie hatte aber sehr kleine und sehr gepflegte Hände. Sie trug eine Magensonde, durch die wurde ihr Nahrung eingespritzt. Wenn sie Italienisch hörte, würde ihr das vielleicht helfen.

Also erzählte ich ihr alles, was mir zu Sizilien einfiel: von meiner Reise mit dem Rad um die Insel herum vor nunmehr vier Jahren, von Agrigent, Catania, dem Regen von Syrakus; dann erwähnte ich Pirandello, Sciascia, den Fürsten Lampedusa; ich sang ihr einen Titel von Lucio Dalla vor (Vita), die italienische Nationalhymne und den Ohrwurm mit dem Refrain Volare, der eigentlich Blu dipinto di blu heißt, in den 1960-er Jahren der Hit und immer noch eine heimliche Nationalhymne.

Keine Reaktion. Ich weiß nicht, was ich noch alles erzählte, mein Italienisch ist immer noch flüssig und dialektfrei – man könnte sagen, wie von einem Florentiner. Doch was wirkte, war wohl der Gesang. Nach 20 Minuten drehte sie sich ganz leicht zu mir her und sah mich an. Eine Art Erwachen vollzog sich. Man sah es in ihren Augen. Sie schaute mich an, bewegte sich unruhig und fing zu stöhnen an, und ich summte dazu, um es zu begleiten. Ich hatte sogar den Eindruck, sie wollte etwas sagen, doch es blieb unhörbar.

Leider wurden wir dann gestört, ich musste weg, verabschiedete mich mit einem Streicheln. Später dachte ich an die berühmte Szene, in der Naomi Feil Kontakt zu einer über 100-Jährigen aufnimmt, zu Gladys Wilson. Auch ihr gelang es, durch ein Lied, das sie mit der Hand klopfend rhythmisch unterstrich, die Frau zu einer Reaktion, zum Erwachen und sogar zum Mitsingen zu motivieren. Das ist sehenswert.


Foto: Der Autor an der Arethusa-Quelle in Siracusa (Syracus), 2014

Da handelt es sich um Menschen, die schon in der letzten Phase der Demenz stecken. Wenn sie keine Anregungen erhalten, ziehen sie sich völlig zurück, geraten am Ende sogar in die Embryo-Haltung und vertrocknen schließlich innerlich. Es ist ein Protest. Sie ziehen sich von der Welt zurück in sich selbst.

Woanders erlebte ich eine über 90-jährige Frau mit Kopftuch, die immer fein lächelte, nicht mehr sprechen konnte und nur mehr ihr Essen hin- und herschob und es über den Tisch verschmierte. Aber auch sie zeigte Reaktionen. Auf meine Nase, die nach einem Fahrradsturz lädiert war, deutete sie mit dem Finger und grinste. Vielleicht hätte man ihr etwas Russisches vorlesen können. Manchmal hielten sie und eine andere Bewohnerin sich an den Händen, und einmal saß ein Pfleger zwischen ihnen und hielt, über Kreuz, die Hand der einen und der anderen.

Diese Frau klopfte manchmal monoton mit ihrem Löffel auf den Tisch. Es war ihr Weg, auf sich aufmerksam zu machen. Die letzte Phase der Demenz (bei Naomi Feil die fünfte). Man meint, diese letzte Phase könne und müsse vermieden werden, indem man viel mit diesen Leuten arbeite. Da ist noch ein wenig Bewusstsein vorhanden, man kann es hervorlocken, und gerade kurz vor Ende des Lebens, wird uns in einem Buch über die Terminale Geistesklarheit von Michael Nahm gesagt, kommt es bisweilen zu einer völligen Aufklarung, die indessen nicht lange dauert.

Die Persönlichkeit ist nur verschüttet und verschleiert, ist nicht völlig verschwunden, und in der anderen Welt erwacht sie nach einer längeren Rekonvaleszenz wieder ganz. Daran glaube ich.

https://www.youtube.com/watch?v=CrZXz10FcVM

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