Der Schrank

Der Himmel beschreibt einen weiten Kreis. Mein Vater sagt, immer da wo ich bin, liegt der Mittelpunkt der Erde. Seitdem er mit einer anderen Frau fortgegangen ist, wohne ich wie in einem Sarg. Wenn ich keine Antworten mehr auf meine Fragen weiß, krieche ich in den großen roten Schrank in meinem Kinderzimmer. Knarzend schließen sich die Türen und durch einen winzigen Spalt sehe ich Staubflimmer durch die Dunkelheit irren. Dumpf verebben die Geräusche im Haus. Dort bin ich allein, bis sie mich finden und ans Licht zerren.

Auch als ein anderer Vater durch das Haus geht, habe ich mich nicht mehr an das Licht gewöhnen können. Wenn mich meine Reisen zwingen, in Hotelzimmern zu übernachten, dann krieche ich schon bald in das dunkle, holzig-warme Innere des Kleiderschranks. Ich warte, bis alle Geräusche um mich herum verstummt sind und das Licht verblasst ist. Erst dann vertraue ich mich meiner Umgebung an.

Lichtbewegt, wie die verwitterten Schnäbel großer Vögel, öffnen sich die Türen der Schränke. Rätselhaft nah sind unter meinen geschlossenen Augen die Feuer am Strand, das Unvergleichliche und Märchenhaft-Abwesende der frühen Kindheit. Vater schließt mich in den großen Schrank, wenn ich böse bin. Er schließt mich ein in meine Träume.

Daniel Mylow - Der Schrank

Zeichnung: Rolf Hannes

Wenn ich nach Hause zurückkehre, öffne ich jedes Mal die schweren Türen des roten Schranks in meinem Kinderzimmer. Diesmal ist es ein Herbsttag und ich bin allein im Haus. Ich finde den Schrank offen. Wimmernd knarzt das Holz, als ich die Türen hinter mir zuziehe. Es ist dunkel. Ich taste nach der Vertiefung im Boden des Schranks, meinem Versteck. Meine Hand bleibt dort liegen. Der traurig-graue Rauch der Träume steigt auf.

Nachts erwache ich. Vorsichtig drückt meine Hand gegen die Schranktür. Nichts. Ich rüttele und ziehe, doch die Türen bewegen sich nicht einen Millimeter. Ich erstarre. Niemand weiß von meiner Anwesenheit. Zaghaft fange ich an zu rufen, doch es bleibt still. Die Schrankwände umschließen mich wie eine zweite Haut. Sie beginnt zu atmen. Ihre Poren öffnen sich. Augenknöpfe starren aus den Ritzen. Eine Tür fällt ins Schloss. Ich höre meine Stimme: „Papa, geh nicht fort.“

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