Der Platz Folge 3


Grafik: Friedel Kantaut

Den Ersten erwischt er mit seinem Ellenbogen in der Magengrube. Er quiekt vor Überraschung und Schmerz. – Pardon. – Fach wühlt sich durch die Menschenhaufen in der U-Bahn, bremst plötzlich ab und lässt eine Frau mit zwei Plastiktüten auflaufen. Passen Sie doch auf, wohin Sie mit Ihren blöden Taschen gehen, dumme Kuh. Die Frau bleibt mit offenem Mund zurück. Er tritt einem Hund auf die Pfote, stellt einem hässlichen Kind ein Bein. Fluchen, Winseln und Weinen werden zu seinem Applaus. Public enemy number one. Oder er steht einfach nur im Weg, rülpst laut und spuckt auf den Boden. Seine noch glühende Kippe brennt ein Loch in die gelbe Seidenbluse einer Touristin, sein Bier durchweicht das Taschenbuch einer rothaarigen Tusse. Lesen kannste auch zuhause. Die Rushhour wird das große Finale. Passanten werden zu Slalomstangen. Einige straucheln. Ihre blauen Flecken sind sein Geschenk zum Feierabend. Nahverkehr ist ein Krieg ohne Fronten und ohne Waffenstillstand. Dann taucht er aus dem Untergrund auf, schüttelt sich den Gestank von der Jacke und krault zurück zum Platz.

Rosie schläft auf seiner Bank in der Nachmittagssonne und schnorchelt durch ihre wunde Nase. Eine Flasche mit einem Rest von grünem Pfefferminzlikör liegt neben ihr. Fach setzt sich neben Rosie auf die Bank. Für einige Stunden wird sie die Klappe halten. Seine Wut hat er in der U-Bahn zurückgelassen. Nun beginnt die Zeit der Harmonie, des Friedens und Glücks. Dafür muss nur noch René rechtzeitig auftauchen.

Inzwischen halten unzählige Kinder den Platz besetzt. Eltern sichern das Gelände vor der Eisdiele, trinken Cappuccino und tauschen sich über Hardwareprobleme, aktuelle Trends und ihre Kinder aus. Eine Sicherheitszone von zwei Metern umgibt die Bank, auf der Fach und Rosie nicht miteinander reden. Sie scheint auf einem Floß im Nichtschwimmerbecken zu treiben. Eine Blase aus Geschrei, Gekicher, Gemecker und unmelodischem Genöle hängt über dem Platz. Trotziges Brüllen kündigt abendliche Familienkonflikte an. Warum reicht all das Speiseeis nicht, um diesem kurzbeinigen Gewimmel das Maul zu stopfen. Der Steinjunge trägt jetzt einen grünen Anorak mit Reflektoren. Mein Papa ist Bäcker, und was ist deiner? – Meiner ist Astronaut. – Du lügst. Ist er nicht. – Isser doch! – Du bist gemein.

War René schon da… Fach sieht hinter sich. Da steht Goethe, gehäkelte Jamaikamütze, bebrillte Augen blinzeln aus einem behaarten Ei, ein gebeugter, dürrer Körper, bekleidet mit einer Strickjacke, orangem Shirt, Jeans, Jamaikastricksocken, Jutesandalen. Ein gottverdammter Hippie, und ein Dichter, sagt man. War René schon da? Angeblich war Goethe mal ein bekannter Autor, jetzt sitzt er täglich auf seiner Bank, trinkt, liest die Tageszeitung, trinkt, kramt einige Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus seiner Umhängetasche, nimmt noch einen Schluck und fängt an zu schreiben, trinkt, schreibt weiter, trinkt seine letzte Flasche aus, verstaut seine Zettel, und wankt heim. Sakura hat mal kurz bei ihm gewohnt. Goethe sitzt nachts immer in der Küche, liest die Zettel, die er am Platz geschrieben hat, trinkt, liest seinen Text noch einmal, trinkt weiter, liest weiter. Irgendwann lärmt er ins Bett. Am nächsten Tag, erzählt Sakura, hat sie dieses engbeschriebene Papier dann im Müll gefunden. Manchmal fragt jemand Goethe: Was machste da? – Ich schreibe an meinem Roman. – Und wozu? Darauf sagt Goethe: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. Und dann sagt er noch: Das ist von Goethe. Daher Goethe. Sonst redet er nicht viel, außer, wenn er fragt, ob René schon vorbei gekommen ist. Noch nicht. Jetzt sind sie drei auf dem Floß. Links von Fach pennt Rosie, rechts von ihm dichtet Goethe.

Wird fortgesetzt.

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