Das Haar

Sie schlief mit geöffnetem Mund, ihre bleichen Arme ausgestreckt auf der Decke. Ihr Atem ging schwer, das Haar war dünn und licht. Auf der Kopfhaut war der kleine Schmetterling zu sehen, den sie sich vor ein paar Jahren hatte tätowieren lassen. Wenn ich mal keine Haare mehr haben sollte, ist es nicht so kahl da oben, hatte sie gesagt, doch niemals daran gedacht, dass es je dazu kommen könnte. Hoffnung hatte sie geschöpft, der Arzt ihr gesagt, sie könne sich als geheilt fühlen. Durch die Flügeltür, die zum Balkon führte, drangen Sonnenstrahlen bis zu ihrem Bett, ihrem linken Arm, an dem die Adern bläulich durch die Haut schimmerten. Im Zimmer roch es nach Essig. Sie hasste diesen Geruch, die Putzfrau schwor darauf. Längst hatte sie es aufgegeben, sie um ein anderes Putzmittel zu bitten. Zwischen ihren Händen auf der Bettdecke lag der Vergrößerungsspiegel.

Marlene Schulz - Das Haar

Zeichnung: Rolf Hannes

Von ihrem eigenen Schnarchen erwachte sie, betrachtete die weißen Wände, den weißen Bettbezug, die weiße Tür, den weißen Rahmen der Flügeltür. Ihre Bewegungen waren langsam, mühevoll. Mit zwei Fingern suchte sie das bordeauxfarbene Nageletui zu greifen, das sich verschob, wegrutschte, zu fallen drohte. Sie ließ nicht ab davon, mühte sich, schaffte es, den Reißverschluss zu erwischen, hob es auf ihr Bett, ließ es neben den Spiegel fallen. Atmete. Die Anstrengung war in ihren kurzen Atemzügen zu hören. Ihr Brustbein bewegte sich schneller. Auf und ab. Scheißleben, flüsterte sie vor sich hin. Der Wecker auf ihrem Nachtschränkchen tickte laut. Der Sekundenzeiger quälte sich von der sieben auf die acht, die neun, zehn, elf, zwölf und wieder von vorn, die nächste Runde. Der Wasserhahn am Waschbecken, das neben der Flügeltür angebracht war, tropfte. Sie öffnete das Etui, zog den Reißverschluss auf: ein Stück weit, um die Ecke, noch ein Stück, noch eine Ecke. Klappte es auf. Die Pinzette lag lose auf der Nagelschere, mit der sie schon lange nicht mehr alleine hantieren konnte. Sie griff nach der Pinzette, hob den Spiegel an. Ein schwarzes Haar an ihrem Kinn. Sie hatte es beim letzten Mal entdeckt, als sie in den Spiegel sah, ihre wässrigen Augen betrachtete, die angeschwollenen Wangen, den Schmetterling, der nicht zu diesem Gesicht, nicht zu ihrem Kopf zu gehören schien. Ihre Hände zitterten. In der einen hielt sie den Spiegel, in der anderen die Pinzette, die sie zum Kinn führte, das Haar zu fassen suchte, mit der Pinzette ins Leere fasste, erneut ansetzte, atmete, noch einmal griff, zupackte, zog, den Schmerz spürte, die Pinzette fallen ließ, hörte, wie sie zu Boden fiel, unter ihr Bett, den Spiegel auf die Decke senkte, die Augen schloss, sich auf ihren Atem konzentrierte. Einatmen. Ausatmen. Den Sekundenzeiger hörte. Den nächsten Tropfen, der aus dem Wasserhahn glitt.

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